Hier findet ihr das PDF der Redical Times zum Thema Wohnraum (November 2014): Stressfrei leben. Unten ist der Leitartikel der Ausgabe zu lesen.
There is something strange in the neighbourhood
Klar, Göttingen ist kein Paradebeispiel für Gentrifi zierung, wie etwa bestimmte Stadtteile in Berlin, Hamburg oder Frankfurt a.M., dennoch handelt es sich bei diesem Begriff um einen Mechanismus der kapitalistischen Wertverwertung in Bezug auf Wohnraum, dessen Prozesse sich auch hier in Göttingen niederschlagen. Denn ein „außerhalb“ des Kapitalismus gibt es nicht. Doch warum werden Wohnungen in Ballungsgebieten immer teurer und Leute aus ihren Vierteln verdrängt? Was soll die Mietspekulation? Und warum brennen in regelmäßigen Abständen Autos, werden Fensterscheiben von Läden in „umkämpften“ urbanen Gebieten eingeschlagen, um gegen „die Gentrifizierung“ der Stadtteile vorzugehen? Und was ist Gentrifizierung überhaupt? Diesen und vielen weiteren Fragestellungen wollen wir uns in der brandneuen Redical Times, die ihr ja jetzt in den Händen haltet, annähern. Uns ist bewusst, dass wir viele Einzelaspekte unter den Tisch fallen lassen mussten, auf die ihr uns selbstverständlich gerne hinweisen könnt. Und auch Kritik, ob positiv oder negativ könnt ihr uns gerne zusenden unter redical.m@riseup.net. Dennoch haben wir den Eindruck gewonnen, ein paar wichtige und richtige Dinge über Wohnen und Wohnraum im Kapitalismus herausgefunden zu haben. Also wünschen wir euch viel Spaß bei der Lektüre dieser Zeitung. Um euch einen kleinen Überblick zu geben, werden an dieser Stelle die Grundüberlegungen methodischer und kategorialer Art kurz dargestellt. Da wir euch nicht zum gefühlten tausendsten Mal mit der Marxschen Wertformanalyse und die systematisch logische und historisch konkrete Entfaltung zur kapitalistischen Konkurrenz belästigen wollen, haben wir uns dieses Mal dazu entschieden, kurze Kästen mit Begriff serklärungen zu platzieren. Diejenige, die wissen, was Akkumulation, Mehrwert usw. bedeutet, können einfach durchlesen. Für andere, die nicht oder kaum im Marxschen Kategoriendschungel geschult sind, stehen die Erklärungen, die selbstverständlich auch nur Reduktionen sind, am Rand. Der Komplexität des Themas Wohnraum, Bodenpreisbildung, Miete, Zins (-fuß) im Kapitalismus ist geschuldet, dass wir keine analytischen Übergänge vom Feudalismus hin zur kapitalistischen Agrarproduktion vorgenommen haben und somit die Unterschiede z.B. der Diff erentialrenten bei ungleicher Produktivität und Erträgen außen vorgelassen haben. Des Weiteren haben wir auf Zahlenspielchen bei Miet- und Bodenpreisberechnungen verzichtet, da die Verwendung von Daten und Preisen eine Scheinplausibilität beinhaltet, die selbst hätte refl ektiert und dargestellt werden müssen. Im letzten Abschnitt des Artikels werden Beispiele und aktuelle Probleme von Herangehensweisen mit Aktionen und Vorstellungen von Gentrifizierung kurz diskutiert und versucht, unsere Position einzubringen. Über einzelne Aspekte und Aktionen der Gegenwehr gegen Gentrifizierung konnten wir uns jedoch nicht konsensuell einigen, so dass wir bei allgemeinen Bestimmungen geblieben sind. So, aber jetzt genug der Vorrede und viel Spaß mit dem Artikel.
Wie Land zum kapitalistischen Privateigentum wurde
Die Vorstellung, dass alles auf Erden (inzwischen nicht einmal mehr nur dort) irgendjemandem gehören müsse, ist in kapitalistischen Gesellschaften so oft heruntergebetet und nicht nur sprichwörtlich eingebläut worden, dass keine/r mehr wagt zu widersprechen. Auch alternative Überlegungen, die von einem kollektiven Gebrauch aller ausgehen, werden als utopische Spinnerei beurteilt oder wie die herrschende Meinung der VWL es formuliert: Es sei nicht die beste Allokation (Zuweisung) der Waren und Ressourcen für die Menschen. Das ist aber auch kein Wunder bei dem Menschenbild, das in die Hirne der (angehenden) Ökonom*innen gestanzt wird und wurde und anschließend unkritisch reproduziert wird. Das Individuum sei von Grund auf egoistisch und wolle immer seinen Nutzen maximieren. Was dieses Nutzding sein soll, bleibt genauso off en, wie seine vermeintliche Grenze. Kurz gesagt, mit der VWL lässt sich nichts erklären, da sie immer das Vorgefundene in Schemata und mathematische Zahlenspielchen pressen will und sich dann wundert, dass sie, wie z.B. im Rahmen der Krise seit 2007, als die Orakelheinis dargestellt werden, die sie auch sind. Die Welt ist kein verschissenes Gleichgewichtsdiagramm, das nur hin und wieder korrigiert werden muss, damit der Markt funktioniert. Und vor allem sind Märkte kein neutraler sozialer Spielplatz von Warenkäufern und -verkäufern. Denn die fehlende Möglichkeit teilhaben
zu können, setzt schon das Elend voraus. In diesen gesellschaftlichen Verhältnissen steht es keiner/m frei, daran teilnehmen
zu wollen, sondern nur unter welchen Bedingungen.
Um diesen Mechanismus und seine Funktionsweisen in einer kapitalistischen Gesellschaft verstehen zu können, sei zuallererst angemerkt, dass der Nationalstaat und seine rechtliche Fixierung (genauer gesagt die des Eigentumsrechts) seine elementare Rechtsform bilden. Geldvermittelter Tausch, sogenannte Geschäfte etc., sind in eine Reihe von Rechtsverhältnissen eingebettet, die die allgemeinen Verkehrsformen des Kapitalismus strukturieren. Das betriff t die Form des Austausches von Waren genauso wie die kontraktliche Vereinbarung der Arbeitskraft. Wenn man in einen Laden geht und als Preis darauf ein Euro steht, dann dürfen an der Kasse keine 2 Euro verlangt werden. Außerdem ist es den Verkäufer*innen von Waren nicht gestattet,
mit unfairen bzw. rechtswidrigen Praxen in Konkurrenz
zueinander zu treten. Die erste Bestimmung, die wir also
vornehmen können, ist, dass das Eigentum der Privatperson
rechtlich durch das staatliche Gewaltmonopol
gesichert ist und dem Äquivalentenprinzip der kapitalistischen
Verkehrsform entspricht. Dabei verhalten sich
die Individuen wie Dinge – Waren – zueinander und abstrahieren
von ihrer gesellschaftlichen Form. Das heißt,
dass die Individuen in Klassenverhältnisse und somit
Produktionsverhältnisse eingebettet sind, die sie jederzeit
reproduzieren, aber nicht bewusst gestalten. In der
bürgerlichen Gesellschaft ist Privateigentum die rechtliche
Grundlage jeglicher wirtschaftlicher Tätigkeit. Mit
dieser Zementierung ist der Ausschluss anderer vom
Eigentum schon vorausgesetzt. Und folglich ist damit
fast jeder Gegenstand zum Eigentumsgegenstand inkorporiert.
Wir erleben aber gerade, dass selbst Grundgüter
wie Wasser, Ideen und technologisch immaterielle Güter
in Eigentumsform gebracht werden sollen. Mit Patent-
und Copyright-Verfahren, soll auf den unterschiedlichsten
Ebenen und in den unterschiedlichsten Ländern
das Recht auf bisher kaum oder noch nicht kapitalisierte
Dinge das Eigentumsprinzip angewendet werden. Gerade
die Kapitalisierung von lebensnotwendigen Ressourcen,
z.B. Wasser, führt global daher zu massiven sozialen
Kämpfen deren Ende nicht voraussehbar ist.
Aber der Weg bis Wasser etc. als Allgemeinressource
privatisiert werden konnte, war lang und setzt kategorial
die Genese des kapitalistischen Privateigentums
und Verkehrsformen sowie die Exploitation der meisten
Menschen von Land und Produktionsmitteln voraus.
Marx hat in dem Kapitel zur ursprünglichen Akkumulation
im Kapital (MEW 23) nachgewiesen, dass die
Entstehung des Privateigentums – und zwar das kapitalistische
– eine Blutspur hinter sich herzieht und unmittelbar
mit gewaltsamer Vertreibung, Verelendung
durch Maßnahmen des staatlichen Souveräns gekoppelt
ist. Die Loslösung von der feudalistischen Produktionsweise,
ging einher mit einer Umgestaltung der Produktionsverhältnisse
und Verkehrsformen. Der staatliche
Souverän, so zu sehen am Beispiel Englands, hat massiv
dazu beigetragen die kapitalistische Produktionsweise
zu etablieren. So half er den Grundherren, die Bauern zu
vertreiben, die ihre Reproduktion zu diesem Zeitpunkt
noch durch Subsistenz und individuelle Mehrarbeit gewährleisten
konnten. Die Herrschaftsverhältnisse waren
noch durchsichtig. Als landlose/r Bauer*in, musste
durch Mehrarbeit; der Anteil „errackert“ werden, den
der Souverän in Form von Steuern etc. einforderte. Die
Möglichkeit der eigenen und familiären Reproduktion
war jedoch durch die unmittelbare Nähe und Form der
Produktion weitgehend gewährleistet. Mit der Ausbreitung
der kapitalistischen Produktionsweise ändert sich
jedoch das Herrschaftsverhältnis drastisch: Die meisten
Menschen wurden gewaltsam von den Produktionsmitteln
geschieden, Ländereien wurden zu Privateigentum
und der Prozess der Landnahme, der Vertreibung und der
Zwang in die Fabriken, um das einzige zu verkaufen, dass
die Menschen hatten – die Ware Arbeitskraft –, schufen
die/den doppelt freie/n Lohnarbeiter*in. Einerseits, weil
sie frei von Produktionsmitteln (Maschinen, Werkzeugen
etc.) sind, aber andererseits auch frei, sich kontraktlich
an die kapitalistische Produktion zu binden. Das massive
Einsaugen von Arbeitskräften in die kapitalistische Verwertung
machte England zum Vorzeigeland des Kapitalismus.
Die massive Expansion des Kapitals weit über die
Grenzen Englands, die Profite in der Industrie und eine
endlose Schar von expropriierten Lohnarbeiter*innen
forcierte die Zirkulation und Umschlagsgeschwindigkeit
des Kapitals. Gerade die Ungleichzeitigkeit von städtischen
und ländlichen Entwicklungen gab dem Kapital
auch durch die Banken und Währungspolitik immer neue
Nahrung für die Verwertung von Arbeitskraft. Dies blieb
jedoch nicht ohne Folgen.
Denn die proletarisierten Massen waren somit dort angesiedelt,
wo auch die Manufakturen und Fabriken standen.
Das war vor allem in größeren Ballungsgebieten/in
Städten der Fall, in denen schon ein gewisses Niveau der
Märkte erreicht wurde. Während einerseits die bürgerliche
Gesellschaft ihre politische Gestalt annahm, wurde
sie gleichzeitig zur Klassengesellschaft, die andererseits
die Proletarier*innen schuf, welche unter miesen Bedingungen
Lohnarbeit zu verrichten hatten, wenn sie denn
überleben wollten. In seinem 1845 erschienen Werk „Die
Lage der arbeitenden Klassen in England“ stellt Friedrich
Engels detailreich dar, wie sich die gesellschaftlichen
Verhältnisse durch die neue Produktionsweise in kürzester
Zeit zuspitzten und welche drastischen Lebensbedingungen
daraus für die Arbeiter*innen und ihre Reproduktion
erfolgte. Wie sich die Kämpfe der Arbeiter*innen
konkret darstellten und auch ganz speziell in Deutschland
entwickelten, wird in der Redical Times-Dezemberausgabe
2012 behandelt, in der wir unter anderem das
Schwerpunktthema Gesundheit und Sozialstaat hatten.
Zusammengefasst: Das Privateigentum ist keine natürliche
Qualität von Dingen, sondern wird durch Herrschaft
hergestellt. Der Umkehrschluss ist daher auch logisch.
Wenn eine Gesellschaft ihre Praxis und Verkehrsformen
der Bedürfnisbefriedigung, also der Produktion und Reproduktion,
ändert, ist das Privateigentum auch die überkommene
Form.
Mietpreis, Pacht und das große Ganze
Jede/r Eigentümer*in, ob Arbeiter*in oder Kapitalist*in,
ist in der bürgerlichen Gesellschaft in der Lage, frei über
das eigene Stück Land zu verfügen, andere davon auszuschließen
oder es gegen eine Pacht zu vermieten. Nur mit
dem staatlich garantierten Monopol, über das Eigentum
verfügen zu können, kann Geld für eine Benutzungs- und
Vernutzungserlaubnis verlangt werden. Unabhängig davon,
ob Land zur industriellen Produktion, zum Bau von
Wohnhäusern, zur Landwirtschaft, zur Industrieproduktion,
zum Sport oder sonstigen Amüsement etc. benutzt
wird, muss die mietende Partei der vermietenden schon
für die bloße Nutzung des Grundstücks eine Pacht zahlen.
Dass der Staat in seiner Funktion als Steuerstaat mittels
der Grundsteuer auch schon sein Stück vom monetären
Kuchen erhält, sei an der Stelle nur kurz erwähnt.
Aber wie lässt sich erklären, dass ein Stück Land, als Naturzustand
unkultiviert in Eigentumsform gebracht, auf
einmal Wert produziere und darüber hinaus sogar noch
als Kapitalanlage mit Zinsen fungieren kann?
Land in seiner ursprünglichen Form kann per se gar keine
Wertform annehmen. Es steckt nullkommanull gesellschaftlich
notwendige (abstrakte) Arbeit darin, sondern
ist aufgefundener Naturstoff. Lässt ein/e Eigentümer*in
(kapitalistische Rechtsform vorausgesetzt!) das Stück
Land kultivieren, lässt also arbeiten, materialisiert sich
die inkorporierte Arbeit in dem Produkt, aus dem Stück
Land. Der Einfachheit halber gehen wir von einer kapitalistische
Getreideproduktion aus und von der Tatsache,
dass der Eigentümer des Stückes Land den Vertrieb des
produzierten Getreides organisiert und das Getreide auf
dem Markt absetzen kann. Daher realisiert sich der Wert
in Geldform, also die zur Produktion erheischte Arbeit,
um das Getreide produzieren zu lassen. Da wir von der
kapitalistischen Getreideproduktion ausgehen, ist auch
der angestellte Bauer, Agrararbeiter*in der dem/der kapitalistischen
Grundbesitzer*in einen Mehrwert abwirft.
Oder anders formuliert, der kapitalistische Getreideproduzent
entlohnt die/den Argrararbeiter*in nur in dem zu
seiner (sozialen/kulturellen) Reproduktion notwendigen
Maß. Diesen abgeschöpften Mehrwert kann der kapitalistische
Grundeigentümer als Profit wieder reinvestieren
und die Produktion auf einer neuen erweiterten Stufenleiter
fortführen bzw. akkumulieren. Das Stück Land wurde
durch die Ausbeutung des Agrararbeiters kultiviert.
Aus Sicht des kapitalistischen Grundeigentümers ist der
Profit jedoch nicht Ergebnis der Ausbeutung des Agrararbeiters,
sondern direktes Resultat des Bodens. Und als
solcher geht dieser davon aus, dass sein Land jetzt einen
höheren Wert habe und er somit, wenn es verpachten
würde eine höhere Pacht verlangen könne.
Gehen wir jetzt davon aus, dass der Grundeigentümer
nicht selbst die Produktion organisiert und leitet,
sondern ein kapitalistischer Pächter das Land vom
Agrararbeiter*in bestellen lässt. Neben der Tatsache, dass
eine andere kapitalistische Charaktermaske (Personifizierung
ökonomischer Kategorien) hinzutritt und den Mehrwert
einsaugt, ändert sich für die/den Agrararbeiter*in
nichts. Für den Grundeigentümer, der verpachtet, ergibt
sich jetzt nicht nur eine Grundrente, die dieser vom Pächter
für eine bestimmte kontraktlich festgelegte Zeit erhält,
sondern eine Differentialrente. Sie ist das Ergebnis
aus der Möglichkeit des in der Konkurrenz realisierten
Surplusprofits. Dieser Surplusprofit ergibt sich z.B., wenn
eine höhere Produktivitätsschwelle erreicht wird und
über diese Produktivität ein kurzfristiger Konkurrenzvorteil
entsteht. Der Wert, der sich daher in dem Verkauf
des Getreides oder auch z.B. bei Immobilien realisiert, ist
unter dem Preis, der durch die Konkurrenz bestimmt ist.
Die Differenz zwischen Preis und Wertmasse geht damit
an den Grundeigentümer. Neben der Produktivität können
jedoch auch die Lage, sowie der Ertrag des Bodens
Faktoren zum Surplusprofit sein. Verschwindet diese Differenz,
erhält der Grundeigentümer jedoch nach wie vor
seine Pacht bzw. die Grundrente, die nun aber den Abzug …